Karma-Yoga

Richard besitzt einen Hof in der Nähe einer indischen Kleinstadt, in dem er Kühe und Kälber pflegt, die in der Stadt in Unfällen verletzt wurden und nicht fähig sind, ohne Hilfe zu überleben. Er  füttert sie, bietet ihnen medizinische und ärztliche Hilfe und hat Ställe angefertigt, in denen sie im nachts und im Winter vor der Kälte oder in der Regenzeit vor Niederschlag geschützt sind. Das Glück, das ihm diese Arbeit bereitet ist in jedem Moment des Umgangs mit ihm deutlich sichtbar. Er lacht, strahlt, in jedem Moment.

Ein anderes Beispiel: Einst lernte ich auf einem Flug nach Kalkutta die Schriftstellerin Else Buschheuer kennen. Wir saßen im Flieger nebeneinander, unterhielten uns und sie erzählte mir von ihrem Vorhaben, in Kalkutta im Hilfswerk der Mutter Theresa ehrenamtlich mitzuhelfen. Alte und kranke Menschen werden dort gepflegt, verarztet und evtl. in den Tod begleitet, obdachlosen Kindern wird ein Heim, medizinische Betreuung und Bildung angeboten. Durch Zufall trafen wir uns auf dem Rückflug am Flughafen wieder. Auf meine Bitte hin, mir von ihren Erfahrungen zu berichten, sagte nur knapp: „Die beste Zeit meines Lebens.“

Der Begriff Karma meint zunächst nur Tat, Handlung. Karma-Yoga meint somit den Vorgang, sein inneres und sein äußeres Ich durch Taten in Verbindung zu bringen. Damit die Handlung allerdings zu einem Akt des Yoga wird, also zu einer Handlung, die mich mit meinem inneren Ich verbindet und mich damit in ein Meer der Glückseligkeit eintauchen lässt, muss die Motivation völlig stimmen. Die Tat muss zwar vielleicht nicht, wie einige behaupten, vollkommen uneigennützig, nicht völlig frei von eigenen Interessen, Absichten, Wünschen und Zielen sein, denn dies ist wohl ebenso unmöglich wie ungesund. Es sollte aber, um diesen hohen Anspruch ein wenig abzumildern, in jeder Handlung, die wir tun, ein Moment, ein Aspekt liegen, der sie über den bloßen Eigennutz heraushebt, der für mindestens ein anderes Lebewesen von ganz konkretem, fühlbarem Nutzen ist. Das gilt natürlich für jedes Tagwerk, für jeden Plan, jedes Projekt als auch für jede Berufswahl.

Im integralen Yoga legen wir den Blick nicht einseitig auf das Jenseits, in der Hoffnung auf eine nachtodliche Belohnung, verfolgen auch nicht den Gedanken des „reinen“ Gottesdienstes, in dem es in der Regel um ähnliche Wünsche geht. Da ja die Prakriti, und damit unser „materieller“ Teil, unser Ego, unsere körperlichen Bedürfnisse als ebenso geistig, göttlich, erfüllt vom Brahman angesehen werden dürfen wie der innere Mensch, kann, darf und sollte ich meine eigenen Bedürfnisse wahrnehmen und ihnen voll Rechnung tragen.

Wie immer wollen wir das Sowohl-als-auch als Maßstab einer für mich und die Welt gesunden Tat anlegen. Einen Nutzen für mich und für die Menschheit, meinen Hund, meine Frau, meine Kinder, andere Menschen, andere Kinder, für die Erde etc. Jede Tat, in der ich auch an mein eigenes Wohlsein denke – und hier dürfen wir uns ruhigen Gewissens an Adam Smiths anlehnen –, ist als eine hygienische Handlung anzusehen. Denn indem ich mich gesund halte, indem ich meine Position in der Welt stärke und kräftige, trage ich auch zur Hygiene, zur Kräftigung und zur Gesundung der ganzen Menschheit bei.

Es darf hierbei aber nicht vergessen werden, dass jede Tat, die ich voll und ganz zum Nutzen und zur Freude eines anderen Menschen, eines anderen Lebewesens, der Erde oder aus Liebe wem auch immer gegenüber ausgeführt wird, in ganz besonderen Sinn als eine yogische Tat angesehen werden kann, die mich in Verbindung mit einem großen inneren Selbst bringt. Als mir mein Vater eines Weihnachtsabends ein außergewöhnliches Geschenk machte, worüber ich mich ganz außerordentlich freute, sah ich Freudentränen in seinen Augen. Er hatte etwas nur zur Freude eines anderen Menschen getan und war nun sichtbar mit seinem inneren Ich verbunden. Ein Moment der Glückseligkeit.

Ein großartiges Beispiel für eine völlig selbstlose Tat finden wir in Bernhard Schlinks Erfolgsroman „Der Vorleser“. Der Protagonist Michael Berg, der als Jugendlicher jahrelang eine sexuelle Liebesbeziehung mit …., einer wesentlich älteren Frau, führt. Seine sexuellen Erlebnisse dankt er ihr, indem er ihr aus Büchern vorliest, nicht wissend, dass der Grund für diesen Wunsch ihre Legasthenie ist. Von dieser erfährt Michael Berg erst später, als … als Naziverbrecherin angeklagt und verurteilt wird. Ohne jede Möglichkeit, jemals in irgendeiner Weise von … belohnt zu werden, beginnt Michael Berg erneut, ihr Bücher vorzulesen. Er schickt ihr in wochen- und monatelanger Arbeit von ihm besprochene, aufgenommene Tonbandkassetten ins Gefängnis. Dies ist Karma-Yoga. Eine Tat aus Liebe, zur Freude eines anderen Wesens, ohne Anspruch auf Vergeltung, ohne Wunsch nach Genugtuung, ohne Hoffnung auf Belohnung.

In diesem Sinne ist der Begriff des Opfers (Sanskrit Yajna) hilfreich, der etwa für die Ethik der Bhagavat-Gita eine zentrale Rolle spielt. (In erster Linie Kapitel 3 und 4.). Ein Opfer ist nichts weiter als eine Gabe, wie das englische Verb to offeraufzeigt. Eine Gabe aus Freiheit, aus dem freien Wunsch heraus, einem anderen Lebewesen eine Freude zu machen. Das lateinische Äquivalent sacrificiumdehnt den Begriff noch weiter aus und zeigt, dass eine solche Tat (ficium) heilig (sacrum) ist, also der Welt des inneren Ich angehört.

 

Soeben nehme ich wieder an meinem Schreibtisch auf einer Gartenterrasse in einem Haus in der Nähe von Neapel Platz, wo ich meine Osterferien verbringe. Heute morgen habe ich Orangen geerntet. Meine Schreibarbeit unterbreche immer wieder, indem ich einem Freund beim Abtransport von geschnitten Olivenzweigen helfe. Während ich eine Schubkarre einen leichten Anstieg herauf der Feuerstelle entgegen transportiere, überkommt mich urplötzlich ein unerklärliches Glücksgefühl. Ob es damit zusammenhängt, dass ich diese Tätigkeit gewissermaßen als Freundschaftsdienst ausführe, kann ich nicht sagen. Vielleicht würde ich, wenn ich dafür bezahlt würde, ganz Ähnliches empfinden. Auch kenne ich diese Gefühle ja aus meinem Lehrerberuf. Worauf es bei Karma-Yoga aber in jedem all ankommt, ist es schlicht und einfach eine Handlung als Handlung auszuführen und sie einfach zu tun. Die Handlung (karma) ist es, die uns mit unserem Selbst, mit unserem inneren Freudenpotential verbindet.