Jnana Yoga: Yoga der Erkenntnis

Ein Moment der Erkenntnis während meiner Zeit als Lehrer

Ich sitze im Halbschatten vor der Caféteria meiner Schule und denke über ein Thema für meine nächste Religionsstunde der elften Klasse nach. Nach einigen Stunden, in denen wir modere Kunstwerke mit religiösen Inhalten (im weitesten Sinn) betrachtet und ausgewertet haben, möchte ich das Thema fortsetzen und ausweiten. Es kommt mir ein Spiegel-Artikel über die Arbeit des kürzlich verstorbenen deutschen Künstlers Christoph Schlingensief in den Sinn, den ich bisher nur überflogen, aber noch nicht gelesen habe. Sogleich mache ich mich auf den Weg zum Büro der Hausmeister, wo zum Glück jeder Spiegel gesammelt wird und mir jederzeit zur Verfügung steht. Ich finde ihn im Regal unter den letzten vier Ausgaben, eile zurück ins Café, bestelle mir einen Cappuccino und beginne zu lesen. Im Zentrum der Arbeiten Schlingensiefs, die auf der diesjährigen Biennale in Venedig ausgestellt werden, steht die Installation „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“, in welcher er seine Krebserkrankung, an der er kurz vor Abschluss der Ausstellungsvorbereitungen gestorben ist, thematisiert. Die Installation besteht aus einer Nachbildung der Apsis der Oberhausener Kirche, in der Schlingensief zwölf Jahre lang Messdiener war. Dort, wo in einer Kirche das Kreuz und die Heiligenbilder angebracht sind, hängen stark vergrößerte Röntgenaufnahmen seines Tumors. Ich zweifle noch, ob der Stoff nicht vielleicht zu schwierig, zu komplex für eine elfte Klasse ist, und denke über den Sinn dieses Kunstwerks nach. Das Krebsgeschwür als Heiligenbild, der eigene Körper als Kirche, als Tempel des Unbegreiflichen, Unerklärlichen, Unfassbaren, des Vorboten des Todes, der Noch-Unbegreiflicheren. In gewissem Sinn eine Darstellung des Todes als transzendenter Macht. Und plötzlich ist das Gefühl da, der „Angst“ aus dem Titel des Werkes, die der Künstler in sich fühlte, zu begegnen. Eine kurze Kommunikation mit dem Künstler. Mit dem Sinn, der Idee dieses Kunstwerks. Und dann bin ich kurzzeitig im Zustand des „no-mind“. Im Moment des Verstehens durchflutet mich das von den Aufklärern so hoch gepriesene Licht der Erkenntnis. Wisst ihr Aufklärer eigentlich, dass ihr mit eurem Licht der Erkenntnis eigentlich eben die Transzendenz beschreibt, gegen die ihr immer wettert? Und ihr Gläubigen, wisst ihr, dass euer Gott, den ihr immer anbetet, eigentlich eine in völlig diesseitige Sache ist, insofern als er hier im Diesseits ja ganz konkret in euch erlebt wird? Es ist der Yoga, die ständig reale Einheit von Welt und Geist, die ich immer wieder neu erleben, die mir immer wieder neu bewusst werden kann. Und obwohl ich in gewissem Sinne die Angst und damit das Leid, den Schmerz des Künstlers nach- und miterlebe, ist die Verbundenheit mit ihm ein Glücksgefühl, das ich genießen darf, ohne damit dem Leid des Künstlers zu spotten.

Ob ich diesen Zustand während einer Erkenntnis auch schon vor meiner Meditationspraxis erfahren habe, ihn aber nicht reflektieren und begrifflich benennen konnte, oder erst meine Meditationspraxis diesen Zustand ermöglicht hat, kann ich nicht sagen. Sicher kann ich aber sagen, dass der Zustand der Erkenntnis als kurzzeitiges Einheitserlebnis, dem Zustand der Einheit in der Meditation sehr ähnelt. Es ist ein Zustand des Glücks, der Entspannung, des Gefühls von Gesundung, von Freiheit, von Frieden. Und von der Sicherheit, in einem sinnvollen und positiven Weltzusammenhang eingebettet, aufgehoben zu sein. Yeah! Ich sammle Wissen, ich erkennen die Welt und ich fühle mich als dieser Kosmos, dieses Weltganz selbst! Es ist kein Trost. Für Trost gibt es verdammt nochmal keinen Grund. Es ist die pure Lebensfreude und damit das Wissen, die Gewissheit, dass das, was die Welt im Innersten zusammenhält, eben diese pure Lebensfreude ist.

 

Jnana-Yoga strebt nichts an als Erkenntnis, Erkenntnis der Welt, Erkenntnis des Menschen und seiner Aufgabe in der Welt, Erkenntnis seiner selbst und seiner eigenen Lebensaufgabe. Jnana-Yoga ist der Yoga des Denkens. Das Sanskritwort Jnana bedeutet Wissen, Erkenntnis, Weisheit etc. Tatsächlich können wir das deutsche Verb „kennen“, das daraus abgeleitete Substantiv „Erkenntnis“ sowie das englische Verb „to know“ etymologisch auf das Wort Jnana zurückführen. Auch mit dem griechischen Wort Gnosis, was ebenfalls mit Erkenntnis übersetzt wird, hängt es sprachgeschichtlich zusammen. „Gnothi se auton“ – Erkenne dich selbst – diese Aufforderung musste jeder Mensch lesen, der in Delphi durch den Tempel in das Gebäude des Orakels eintrat, um sich dort seine Zukunft weissagen zu lassen.

Der idealische Mensch

Was lebt in deinem Innern, das du noch nicht verwirklicht hast. Welche Eigenschaften, welche Kräfte, welche Gefühle, was für enorme Potentiale leben in dir, die nur noch nicht erweckt sind, die noch schlafen und darauf warten, erlöst und in die Existenz gerufen zu werden. Wie groß ist deine Toleranzkraft? Wie groß könnte sie sein? Wie groß ist deine Liebesfähigkeit? Wie groß könnte sie sein? Wie groß ist deine Wachheit und Aufmerksamkeit? Wie groß könnte sie sein? Wie positiv bist du, wie sehr strahlst du in jedem Moment? Wie souverän gehst du mit Rückschlägen, Verletzungen oder Misserfolgen um? Und wie könntest du damit umgehen?

„Jeder individuelle Mensch, kann man sagen, trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechslungen übereinzustimmen, die große Aufgabe seines Daseins ist“. Dank dieses Geniestreichs aus dem vierten Brief über eine ästhetische Erziehung des Menschen von Friedrich Schiller, die er zum Dank an seinen Gönner … verfasst hat, kann auch für einen völlig areligiösen Menschen ein Gottesbild ein sinnvoller Gegenstand sein, indem man ihn einfach als Abbild dieses idealischen Menschen versteht, den jeder Mensch als sein Allerheiligstes in sich trägt. Wir befinden uns inmitten des Prozesses einer Entwicklung, die vielleicht ewig andauert, vielleicht aber auch irgendwann ein Ende hat. Wie auch immer dieses Ende aussehen mag, es muss großartig sein. Im Gegensatz zum Gläubigen, der tendenziell immer ein eher pessimistisches Weltbild in sich trägt und die Welt als einen katastrophalen Abstieg aus einem großartigen paradiesischen Zustand heraus begreift, versteht der Erkennende den Weltzusammenhang als einen möglicherweise ewigen Fortschritt, der so, wie er ist, zu begrüßen ist. Der Erkennende sieht sich als Teil dieses Fortschrittes und greift ihn mit Begeisterung auf. Das Leben ist ein einziger phantastischer Lernprozess. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute lernen wir dazu und ein Erkennender sieht im ständigen Lernen, im ständigen Sich-Verbessern seine Lebensaufgabe. Die Annahme, der Mensch sei aus der göttlichen Welt herausgefallen und habe sich dort aufgrund eigener Vermessenheit von Gott getrennt, muss ein Erkennender ablehnen. Der Sündenfall-Mythos ist für ihn ein Segen, denn er bedeutet ihm Freiheit, Unabhängigkeit und den Zugang zu Erkenntnissen, die vorher möglicherweise verschlossen waren. Diese Deutung des Sündenfalls finden wir in den gnostischen Evangelien, die von der frühen katholischen Kirche unter der Leitung von … verboten und verbrannt wurden. Die Schlange des Paradieses galt den gnostischen Christen als Symbol der Erkenntnis, die den Menschen aus seiner Unmündigkeit befreit und ihm die wahre Welt vor Augen führt, wo er selbstständig und autonom werden kann.[1]Erst durch die Schlange ist eine Entwicklung, ein Fortschritt möglich. Die Vertreibung au dem Paradies nimmt der Erkennende dafür gerne in Kauf. Ihm ist klar, dass seine Aufgabe in der Welt mit Mühen und Schweiß verbunden sein muss. Dies zu leisten ist er allerdings gerne bereit. Jede Erkenntnis kostet Anstrengung, der Preis für jede Erleuchtung ist harte Arbeit. Doch das bereitet ihm Freude. Er scheut sich vor keinem Wettkampf. Das Leistungsprinzip ist sein Leben.

Dem Gläubigen ist der Erkennende suspekt, er ist ihm vielleicht sogar ein Dorn im Auge. Seine Zweifel an einem persönlichen Gott, an der Wahrheit des Mythos und am Sinn des Rituals muss er als Blasphemie deuten. Der Erkennende ist ein Wissenschaftler, der keinen Glauben gelten lässt. Was nicht nachprüfbar ist, hat für ihn keinen Wert. Deshalb ist aus dem Gebiet des Glaubens der Bereich des Bhakti-Yoga, dem Yoga der Liebe, für ihn trotzdem von Wert, in dem er Ergebnisse, etwa eine Veränderung seines inneren Zustandes, verzeichnen kann.

Wie bereits angedeutet, hat der Erkennende an einem persönlichen Gott im Normalfall nur wenig Interesse. Wesentlich wichtiger ist ihm das Göttliche in seinem eigenen Innern. Dies allerdings sucht er mit aller Kraft und lässt sich dafür auch auf Experimente wie Meditation ein.

Der Erkennende par Excellance des indischen Altertums war Buddha. Er reformierte die gesamte indische Spiritualität und ließ nichts gelten als das, was durch innere Erfahrung nachprüfbar war. Jede Form von Götterkultus, jede Form von Mythologie und jeglichen Ritus erklärte er für ungültig. Alles, was er gelten ließ, war das Gesetz des Karma. Als einziges Ziel des menschlichen Lebens definierte er die Erleuchtung und die Befreiung vom Leiden.

Während ein Gläubiger die Verbindung zum Universum über seine Offenheit sucht, sucht ein Erkennender diese Verbindung über seine Wachheit, seine Aufmerksamkeit und seine Geistesgegenwart. Achtsamkeit ist das Zauberwort des Buddhisten.

[1]Vgl. hierzu Elaine Pagels: Adam, Eva und die Schlange….