Hatha-Yoga: Sonne und Mond

Die philosophische Grundlage der Yoga, die Samkhya-Lehre definiert die Welt als ein Zusammenwirken der beiden Polaritäten Purusha und Prakriti, des Ur-Männlichen und des Ur-Weiblichen. Während Prakriti die gesamte Materie, die Natur und jede Art der Körperlichkeit umfasst, reduziert sich Purusha auf das reine Bewusstsein, den Wesenskern des Menschen. Während Purusha reine Potenz, die reine Ruhe, aber auch die Quelle allen Seins und aller Energie ist, umfasst Prakriti alles Sichtbare sowie jede Art von Energie (Shakti), ja gewissermaßen alles Leben in seiner Aktualität. Purusha entspricht dem inneren Ich, während das äußere Ich wenn auch nicht die gesamte Prakriti, d.h. Natur oder Schöpfung, so doch ein wichtiger Teil von ihr, darstellt.

Jedes Götterpaar des indischen Mythos repräsentiert diese Ur-Dualität: Parvati-Shiva, Sita-Rama, Radha-Krishna, Sarasvati-Brahma etc. Immer stellt das Männliche die Energiequelle, das Weibliche die Energie selbst, die Materie und ihre Entfaltungsmöglichkeiten dar. In der Bezeichnung Hatha-Yoga kommt zum Ausdruck, was diese grundsätzlichste Dualität mit Yoga zu tun hat. Ha wird im Sanskrit mit Sonne, tha mit Mond wiedergegeben. Auch die Sonne ist in ihrer Position als Licht- und Wärmequelle seit jeher Symbol des Männlichen und wird ja auch im Griechischen, Lateinischen (sol, solis) sowie in sämtlichen romanischen Sprachen männlich dekliniert (il sole, el sol, il soleil etc.), während der Mond als bloße Materie, die das Sonnenlicht aufnimmt und ausstrahlt, in ihrer empfangenden Eigenschaft als das Symbol des Weiblichen gilt. Auch im Griechischen, Lateinischen (luna) sowie in sämtlichen romanischen Sprachen (la luna, la lune) wird der Mond weiblich dekliniert. Hatha-Yoga meint somit die Verbindung bzw. Vereinigung der Polarität des Männlichen und des Weiblichen.

In sämtlichen religiösen Traditionen aller Weltkulturen spielt die Vereinigung der Polaritäten des Männlichen und des Weiblichen eine zentrale Rolle. Dabei entspricht dem Männlichen stets das Prinzip des Schöpfungsaktes, der Potenz, der Form, während das Weibliche die Schöpfung als Geschaffenes, Mutter Natur, Materie (von lat. mater = Mutter) umfasst. Selbstverständlich darf dies nicht im Sinne einer Wertigkeit missverstanden werden. Dass das Männliche die Sonne, das Licht, die Energiequelle, die Ruhe repräsentiert, heißt nicht, dass in irgendeiner Weise besser wäre als das Weibliche, ebenso wenig wie der Vater besser ist als die Mutter. Man benötigt zur Schöpfung einer Plastik ebenso eine Form, eine Idee wie auch die Materie dazu, beides ist notwendig. Die These ist ebenso notwendig wie die Synthese, der Tag ebenso wie die Nacht, die Ruhe ebenso wie die Aktivität. Entscheidend ist, dass die Dualität existiert, um überwunden zu werden. These und Antithese bilden gemeinsam die Synthese, die sowohl These als auch Antithese, wie Ken Wilber es formuliert, in sich einschließt als auch transzendiert, d.h. übersteigt, es dadurch auf eine neue Ebene hebt und damit befreit und erlöst.

Wenn wir an Yoga denken, denken wir normalerweise an die Körperstellungen, die Asanas. Danach vielleicht an Meditation und Methoden oder Wege dazu. Beides soll später noch angesprochen werden. Die ältesten Texte (?) über Yoga geben allerdings ein wesentlich breiteres Begriffsspektrum an. Zunächst teilen Sie den Menschen – bzw. sein Gemüt, sein Innenleben – in drei Teile: einen denkenden, einen fühlenden und einen handelnden Teil. In jedem dieser Teile kann Yoga erreicht werden und jeder dieser Teil kann ein Werkzeug für das Yoga sein. Jeder Mensch fühlt sich wohl auch in jeweils einem dieser seiner Teile besonders zuhause. Es gibt ganz offensichtlich eher Denkertypen, eher gefühlsmäßig veranlagte Menschen und es gibt die Macher. Sinnvoll ist es – das wird im Verlauf des Textes hoffentlich immer klarer werden – sich in allen drei Disziplinen zu üben und zu vervollkommnen. Diese drei Teile des Menschen, das Denken, das Gefühl und sein Wille zur Tat, sind gewissermaßen die Objekte der drei großen traditionellen Yogawege, die im Sanskrit Jnana-Yoga, Bhakti-Yoga und Karma-Yoga genannt werden. In gewissen Sinne entsprechen den drei Disziplinen der Philosophie, wie sie Immanuel Kant festgelegt hat: der Erkenntnistheorie (und seiner angewandten Frag: Was kann ich wissen?), der Metaphysik (und seiner angewandten Frage: Was darf ich hoffen?) und de Ethik (und seiner angewandten Frage: Was soll ich tun?). Der Weg des Jnana-Yoga ist auf Erkenntnis ausgerichtet und hinterfragt gleichermaßen die Erkenntnisfähigkeiten und –möglichkeiten des Menschen. Der Weg der Bhakti setzt eine lebendige Metaphysik, ein Jenseits voraus, Der Weg des Karma-Yoga hingegen fragt nach dem richtigen Handeln des Menschen. Diese drei Hauptpfade sollen im nun Folgenden nacheinander vorgestellt und beschrieben werden.